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Nichts ist, wie es scheint

Thomas Hürlimanns „Lied der Heimat“ mit aufreizenden Untertönen

Wer auch immer bei der Qual der Vorauswahl sich schließlich in Hürlimanns Theaterstück verfing: „Das Lied der Heimat“ entpuppte sich bei der Premiere der Theater AG als grotesker Zerrspiegel für die Zuschauer und großartiger Rummelplatz für vergnügungssüchtige Spieler.

RAINER KOLLMER 
Der Schweizer Thomas Hürlimann brachte sein „Lied der Heimat“ vor acht Jahren eher beiläufig an die Öffentlichkeit. Das geschah nicht grundlos. Schon damals wussten wir mit der ausgefransten Heimatschablone nichts mehr Gescheites anzufangen. In jenen Jahren machte auch Filmemacher Edgar Reitz mit seinem Heimat-Epos klar, dass wir die Idee nur noch als Bückware in den unteren Regalen finden – kaum jemand möchte den verstaubten Ladenhüter wirklich haben. Und bei dem Wort Komödie dachten wir vor einem Jahrzehnt auch schon ähnlich: an müde Mundartstadel, in denen der Held am Ende des zweiten Akts in Unterhosen erwischt und irgendwann doch noch alles gut wird.

Aber nicht immer ist in der Verpackung auch drin, was außen drauf steht. Hürlimann bastelte aus vier skurrilen Einzelgeschichten eine atemberaubende Mischung von grimmiger Situationskomik und verschmitzter Nachdenklichkeit.

Da muss sich der müde 70-jährige Gottfried Keller (Frederik Amann) auf Geheiß des Obers (Ellen Schober) selbst auf die Leiter bemühen, um den zugestaubten Pathos seiner Sprache zu beweisen, während im Vordergrund ein grün-weiß-rot schwarzes Glückskleeblatt von aufgeregten Damen flügelschlagend um den weißen Amor mit seinem gewaltigen Pfeil und Bogen flattert und sich keinen Deut um den lustlosen Keller schert.

Was soll’s aber auch – Heimat ist immer das, was man selbst daraus macht. So wird in der zweiten Szene der anfangs bedrückende Dialog zwischen Sturmbannführer Indergand (Martin Cybulski) und Olga (Katharina Burbach) unversehens absurd, wenn die Polin schließlich einwilligt, ein deutsches Volkslied zu komponieren.

Die von Hürlimann 1992 veröffentlichten „Geschichten aus der Satellitenstadt“ tauchen die Heimat schließlich in der dritten Szene ins hochprozentige Säurebad.

Drei wechselnde Paarbeziehungen erinnern stark an den Standard der Boulevardkomödie, entlarven aber auf doppelt schreckliche Weise, auf welchem Treibsand der Heimatgedanke steht: Die vermeintliche Einmaligkeit der heimatlichen Wohnung verlottert als unendlich geklonte Serie, das Unikat der menschlichen Zweierbeziehung verliert sich im isolierenden Nebel einer hoffnungslosen Erkenntnis von Heimatlosigkeit, wenn Iris und Peter am Ende schlussfolgern: „Wir sind es, wir müssen es sein“.

Mit dem ausgezeichnet zusammengestellten Sixpack (Anja Beuter, Alexander Drobny, Niklas Heer, Manuel Jahn, Svenja Matthes, Jule Vorholzer) und einer genial einfachen Ausstattung gelang Regisseur Thomas Höll ein Meisterstück. Das Wesentliche wurde auf ein beeindruckendes Minimum eingedampft. Die Wirkung war enorm.
Heimat-Pop vom Balkon

Trotz der verschiedenfarbigen Einzelflicken blieb die Inszenierung ein übersichtlicher und sehr kompakter Teppich ohne unangenehm sichtbare Nähte. Zum einen hatte Hürlimann dafür gesorgt, dass der zu Unrecht als Komponist gefeierte Indergand zusammen mit Olgas Tochter in der vierten Szene nochmals auftaucht – an der Lebenslüge des ehemaligen Nazis im Umgang mit der Heimat scheiden (sich) die Geister. Zum anderen warf das stets auf dem Balkon präsente Über-Ich seinen Heimat-Pop („Gaildorf, ja das sind wir“, „Wir machen uns die Heimat so, wie wir sie wollen, hau ruck!“) als bitterbösen musikalischen Kommentar (verantwortlich: Bernd Scheiderer) zwischen die begeisterten Zuhörer hinab – von den neun Sieben Zwergen (aus dem nahen Kohlwald?), die wiederholt über die Bühne huschten, ganz zu schweigen. Heimat ist wirklich überall und nirgends, so scheint’s.

 

Mit freundlicher Genehmigung der Gaildorfer Rundschau