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Wenn alte Rechnungen beglichen werden

Schon mit den beiden Extrablättern des Güllener Volksboten wurden die Leser darüber informiert, dass die Stadt Güllen tief in der Krise steckt. Aber auch der Kommentator deutete an, dass „unsere Kläri“ Hoffnung auf einen Wertewandel versprechen könnte. 

RAINER KOLLMER
GAILDORF ∗ Wie haltbar ist Moral? Wie dehnbar ist sie? Wie kommt es, dass Moral in ihr Gegenteil umschlägt und dann immer noch als Moral verkauft wird? Als Friedrich Dürrenmatt sein Stück „ Der  Besuch  der  alten  Dame“ 1956 in Zürich auf die Bühne brachte, war das Publikum zehn Jahre nach dem 2. Weltkrieg noch beson ders sensibel fürs Moralische. 12 Jahre praktizierte Unmoral lassen sich nur nach und nach sanieren.

Wenn das Stück 53 Jahre später erneut auf die Bühne kommt, ist von  der historischen Grundbefindlichkeit nicht mehr viel vorhanden. Da muss man aufpassen, dass die  alten Moral-Schablonen überhaupt noch ins aktuelle gesellschaftliche Grundmuster passen.

Die Aufführung  der Theater-AG unter Führung von Thomas Höll meisterte das Problem mit Brillanz.  Der weitgehende Verzicht auf aktualisierende Mätzchen schuf klare Verhältnisse (vom Laptop und von  der portablen Baustellen-Klobude einmal abgesehen). Denn Transparenz war das Mittel  der Wahl. Wenn sich  der Lehrer anfangs leidenschaftlich über ethische Grundprinzipien ausließ, wehte sanft  der feine Staub antiker Wertvorstellungen in die Aula. Sarah Stadelmaier schaffte diese schwierige Aufgabe mit viel Einfühlungsvermögen.

Doppelter Moralbegriff
Dagegen standen die biederen Bürger Güllens (Corinna Rigol, Eva-Maria Schrö der, Silke Weiss, Mareike Schwarz sowie die Enkelkinder Ellen Schober und Moritz Schütt). Sie boten ein sorgfältig gezeichnetes Abbild einer scheinbar durchschnittlich-harmlosen (und deshalb gefährlichen) Bevölkerung, deren doppelter Moralbegriff sich vor allem an der eigenen Überlebensstrategie orientiert. Aber auch die angesehenen Honoratioren des Dorfes waren keinen Deut besser. Der gutmütig-durchtriebene Polizist (Benjamin Börret), der selbstgefällig salbadernde Pfarrer (Silke Weiss), der übereifrige Arzt Dr. Nüsslin, Frau Ill und nicht zuletzt der von Michael Frank ausgezeichnet gespielte Bürgermeister waren trügerische Knüppeldämme durch den moralischen Sumpf von Güllen. Wenn’s drauf ankommt, wird die Moral so brüchig wie die Eisschicht auf einem See bei einsetzendem Tauwetter.

Ruben Seidel als Ill hatte es bei so viel biederer Begehrlichkeit in seiner ach so geliebten Heimat Güllen nicht leicht. Entwickelt sich ein Gemischtwarenladenbesitzer mit unmoralischer Vergangenheit („ich war unerfahren“) wirklich zum heroisch auftretenden Intellektuellen, wenn es ihm ans Leder geht? Selbst den Zug ins Überleben verpasst er.

Das Gefolge der alten Dame war im Sinne von Dürrenmatt jedenfalls stimmig. Die drei auswechselbaren Gatten wurden von Jasmin Jurthe als herzhaft-komische Karikaturen personifiziert, die Chewing-Gum mümmelnden Sänftenträger (Jonathan Glöckler und Benjamin Häfner) und das unzertrennliche Synchron-Paar Fridolin Schöpper und Tobias Fimpel (Koby und Loby) machten die skurrile Komödienausstattung perfekt. Dazu kam das einfallsreich agierende „Vokalorchester“ (Raphael Bartz, Tobias Kühnle, Tobias Wöhrle, Peter Zahn), das Fernzüge unerwartet anhalten und Kirchenglocken auch im Duett mächtig erdröhnen ließ.
GAILDORF ∗ Und Claire Zachanassian alias Klara Wäscher? Darja Tutschkow gelang es, aus der milliardenschweren Rächerin von Güllen genau jene Figur zu personifizieren, die durch ihre gnadenlosen Schachzüge den gesamten Rhythmus des Stückes bestimmte. Es wird noch lange dauern, bis eine Schülerin des Schenk-von-Limpurg-Gymnasiums so schrecklich alt wird wie Darja Tutschkow in ihrer Rolle: ein morbides Wrack mit Zigarre („Reich‘ mir mein linkes Bein herüber“), pseudosentimental und herrschsüchtig. Und besonders ist zu betonen: Sympathie vom Publikum wurde höchstens in homöopathischen Dosen erbettelt.

Das Theaterstück war so klassisch inszeniert, dass das Zusammentreffen  er verschiedenen Wertevorstellungen hautnah spürbar wurde. Es ist zu vermuten, dass auch Friedrich Dürrenmatt der Aufführung viel Applaus gegeben hätte.

Mit freundlicher Genehmigung der Gaildorfer Rundschau